Homo erectus: Funde und Fundstellen

Homo erectus: Funde und Fundstellen
Homo erectus: Funde und Fundstellen
 
Während unser früher Verwandter Homo erectus heute aufgrund der großen Zahl von ihm bekannter Fossilien gut belegt und seine Stellung im Stammbaum der Hominiden seit geraumer Zeit etabliert ist — nämlich zwischen dem frühen Homo und unserer eigenen Art Homo sapiens — begann die spannende Geschichte seiner Entdeckung mit einigen Umwegen.
 
 Frühe Entdeckungen
 
Der junge niederländische Arzt Eugène Dubois schlug 1887 eine viel versprechende Universitätskarriere aus, um stattdessen nach dem fehlenden Bindeglied, dem »Missing Link« zwischen dem Menschen und den Menschenaffen zu suchen. Die Existenz eines solchen Affenmenschen oder Pithecanthropus war einige Jahre zuvor von dem Jenaer Zoologen Ernst Haeckel, einem vehementen Verfechter der Evolutionstheorie Darwins in Deutschland, postuliert worden.
 
Nachdem Dubois' Versuch gescheitert war, das Geld für eine private Expedition nach Südostasien — wo damals nicht nur er den Ursprung der Menschheit vermutete — aufzutreiben, änderte er seine ursprünglichen Pläne und verpflichtete sich für acht Jahre als Militärarzt bei der Niederländisch-Ostindischen Armee. Bereits im Herbst 1887 trat er mit seiner Familie die lange Reise nach Sumatra an. Dort brauchte er nicht lange um zu erkennen, dass seine militärischen Aufgaben ihm so gut wie keine Zeit für die Verfolgung seiner eigentlichen Interessen lassen würden.
 
Der junge Forscher ließ sich jedoch nicht entmutigen, und nach und nach gelang es ihm, seine Vorgesetzten von der großen Bedeutung seines paläontologischen Projekts zu überzeugen: Er wurde vom Dienst freigestellt, um die Leitung wissenschaftlicher Feldforschungen zu übernehmen. Im März 1890 reiste Dubois in Begleitung von zwei Sergeanten und etwa 50 Sträflingen, die ihm zur Unterstützung bei der Fossilsuche als Arbeiter zugeteilt worden waren, nach Java.
 
Hier entdeckte die Expedition noch im November des gleichen Jahrs bei Kedung Brubus ein kleines Unterkieferfragment mit einem menschenähnlichen ersten Prämolar, nachdem sie bereits auf eine große Zahl fossiler Tierknochen gestoßen war. Doch erst in den beiden folgenden Jahren sollten die Funde glücken, auf die Dubois von Beginn an gehofft hatte. In der Nähe des Dörfchens Trinil am Solo-Fluss, wohin er seine Ausgrabungen verlegt hatte, brachte die Suche zunächst einen weiteren Zahn ans Tageslicht und etwas später ein relativ großes flaches Schädeldach mit einem vorspringenden Überaugenwulst.
 
Dubois selbst war die Tragweite seiner Entdeckungen zunächst gar nicht bewusst, denn in einer ersten Interpretation ordnete er die Funde einer schimpansenähnlichen Art zu, die von ihm als »Anthropopithecus« bezeichnet wurde. Als im Oktober 1891 jedoch ein vollständiger Oberschenkelknochen entdeckt wurde, revidierte der Wissenschaftler seine Deutung. Obwohl der Fundort dieser Knochen einige Hundert Meter vom Schädeldach entfernt lag, war Dubois davon überzeugt, dass das Fossil vom selben Individuum stammte. So ließen die ausgesprochen menschliche Anatomie des Oberschenkels, die ohne Zweifel auf einen aufrechten Gang deutete, und das aus dem Schädeldach rekonstruierte, mit über 900 cm3 relativ große Hirnschädelvolumen seiner Meinung nach nur einen Schluss zu: Es handle sich hier um eben jenes von Haeckel postulierte fehlende Bindeglied, den aufrecht gehenden Affenmenschen, dem Dubois dementsprechend den Namen Pithecanthropus erectus gab.
 
Streit um Pithecanthropus
 
Nach Hause in die Niederlande zurückgekehrt, stellte Dubois seinen Pithecanthropus erectus 1895 auf dem internationalen Zoologenkongress in Leiden zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Doch obwohl die allgemeine Bedeutung seiner Funde von den Wissenschaftlern weitgehend anerkannt wurde, müssen für Dubois die Reaktionen auf seine Interpretationen der Funde eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Denn viele Forscher bezweifelten, dass die einzelnen Fundstücke tatsächlich zu einem Individuum gehörten. Vor allem aber wollten sich nur wenige von ihnen Dubois' Schlussfolgerung vom gefundenen »Missing Link« anzuschließen. Stattdessen waren einige Paläontologen davon überzeugt, Dubois' Funde seien einer Affenart zuzuordnen, während andere ihre Ähnlichkeiten mit dem modernen Menschen betonten. Auf Reaktionen dieser Art stieß Dubois immer wieder auf Kongressen und Tagungen in ganz Europa, sodass er sich schließlich verbittert mehr und mehr aus den Diskussionen zurückzog und andern Forschern den Zugang zu seinen Funden verwehrte. Wie verschiedene Quellen berichten, hielt er sie unter den Fußbodendielen seines Wohnhauses versteckt.
 
Wesentlich zur Entscheidung über die Deutung der Fossilien trugen neue und vor allem vollständigere Funde bei, die seit Ende der 1920er-Jahre in China und wiederum auf Java gemacht wurden: Diese sind offenkundig zur gleichen Art zu rechnen wie Dubois' Fossilien und belegen darüber hinaus, dass es sich bei Pithecanthropus bereits um einen Frühmenschen handelte. Dubois aber hielt bis zu seinem Tod im Jahr 1940 unbeirrt an der Interpretation seiner Funde als »Missing Link« fest.
 
Gegenwärtig ordnet man die Fossilien aus Trinil, die etwa eine Million Jahre alt sind, einer großen Gruppe von Funden aus Asien und Afrika zu, die insgesamt zu der Art Homo erectus gestellt werden. Von Dubois' ursprünglicher Benennung ist damit nur der Artname »erectus« geblieben, obwohl man weiß, dass sich der aufrechte Gang bereits sehr viel früher — vor mehr als vier Millionen Jahren — herausgebildet hat. Geblieben sind auch die Zweifel an der Zusammengehörigkeit der einzelnen Fundstücke. Denn nicht zuletzt aufgrund neuerer Untersuchungen der recht modernen Morphologie des Oberschenkelknochens sowie der Ergebnisse der Analysen seiner chemischen Zusammensetzung vertreten heute viele Wissenschaftler die Auffassung, dieses Fossil sei deutlich jünger als das Schädeldach.
 
Neues Licht aus Peking
 
Der Streit um Dubois' Pithecanthropus war bereits mehr als dreißig Jahre alt, als etwa fünfzig Kilometer südwestlich von Peking der erste Homo erectus-Schädel in China entdeckt wurde. Er stammt aus den Kalksteinhöhlen bei Zhoukoudian, in denen die Landbevölkerung seit Jahrhunderten fossile Knochen und Zähne sammelte, um mit diesen »Drachenknochen« die verschiedensten Beschwerden zu kurieren. So gelangten Fossilien auch an Händler in den Städten, die sie auf Märkten und in Apotheken anboten.
 
Angeregt durch eine Arbeit des deutschen Zoologen Max Schlosser, der 1903 in einer Sammlung von Fossilien aus chinesischen Apotheken neben Überresten zahlreicher Tierarten auch einen Zahn gefunden hatte, von dem er annahm, dass er von einem Menschen stammte, begannen sich seit der Jahrhundertwende immer mehr Paläontologen für die chinesischen »Drachenknochen« und ihre Herkunft zu interessieren. Bei einem Aufenthalt in Zhoukoudian im Jahr 1921 erhielten Forscher von einem Einheimischen Hinweise auf eine besonders reichhaltige »Drachenhöhle«. Tatsächlich stieß bei anschließenden Grabungen der junge österreichische Paläontologe Otto Zdansky auf zahlreiche Überreste von Säbelzahnkatzen, Nashörnern, Hyänen und Bären sowie auf einen ersten hominiden Zahn. Weitere Funde glückten, nachdem die Arbeiten bei Zhoukoudian durch ein 1926 gegründetes internationales Forschungsprojekt unter der Leitung des in Peking tätigen kanadischen Anatomen Davidson Black intensiviert worden waren. So konnten in den folgenden Jahren weiter hominide Fossilien nachgewiesen werden, wie etwa 1927 abermals ein Zahn und 1928 verschiedene Unterkiefer- und Schädelfragmente. Kurz vor Ende der Grabungssaison des Jahrs 1929 schließlich gelang dem chinesischen Wissenschaftler Pei Wenzhong, der die Forschungen vor Ort koordinierte, der Fund, auf den Black seit langem gewartet hatte: Tief im Innern der Höhle — sie war an dieser Stelle so eng, dass die Männer nur beim Schein von Kerzen, die sie in einer Hand hielten, arbeiten konnten — entdeckte der Forscher am Spätnachmittag eines kalten Dezembertags einen fast vollständig erhaltenen Hirnschädel.
 
Für Black war dieser Fund der lange erwartete endgültige Beweis für die Existenz eines »Pekingmenschen«, den er bereits zwei Jahre zuvor, nur auf der Grundlage der bis dahin entdeckten Zähne, beschrieben und als Sinanthropus pekinensis in die zoologische Taxonomie eingeführt hatte. Bei weiteren Grabungen stieß man auf immer neue Fossilien dieses Frühmenschen, doch blieb Black nicht mehr viel Zeit, seinen Erfolg auszukosten. In der Nacht des 15. März 1934 verstarb er im Alter von 49 Jahren an seinem Schreibtisch in Peking an Herzversagen.
 
Daraufhin übernahm der deutsche Anatom und Anthropologe Franz Weidenreich die Leitung des Forschungsprojekts. Er begann in Peking mit der Ausarbeitung äußerst detaillierter Beschreibungen der Fundstücke von Zhoukoudian, die er in den folgenden Jahren in umfangreichen Monographien veröffentlichte. Zugleich führte er die Arbeiten in Zhoukoudian mit großem Erfolg weiter, bis sie nach der japanischen Invasion in Nordchina 1937 wegen drohender kriegerischer Auseinandersetzungen gestoppt werden mussten.
 
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Grabungen fünf verhältnismäßig gut erhaltene Hirnschädel und viele weitere Schädelteile, 16 Unterkieferfragmente und 147 Zähne von insgesamt mindestens 40 erwachsenen und jugendlichen Individuen zum Vorschein gebracht. Hinzu kamen verschiedene Knochen des Körperskeletts, darunter neun Oberschenkelfragmente. Weidenreich blieb bis 1941 in Peking und fertigte Abgüsse, Zeichnungen und Fotografien des Materials an, bis ihn die politische Entwicklung zwang, China in Richtung Amerika zu verlassen. Die Funde blieben zunächst in Peking zurück, ehe sie schließlich in den Wirren des Kriegs verloren gingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Fossilsuche in Zhoukoudian unter chinesischer Leitung wieder aufgenommen und brachte in den 1950er- und 1960er-Jahren noch einmal einige Zähne, Schädel- und andere Knochenfragmente zutage.
 
Von Koenigswalds Funde auf Java
 
Im Frühjahr 1939 besuchte der Paläontologe Ralph von Koenigswald die Ausgrabungsstätten bei Zhoukoudian. In seinem Gepäck brachte der junge Wissenschaftler, der — auf den Spuren von Eugène Dubois — seit einiger Zeit Forschungen in Zentraljava betrieb, einige spektakuläre neue hominide Fossilien nach China mit.
 
Von Koenigswald war 1931 zum ersten Mal nach Java gekommen, wo er bis 1935 im Auftrag des Geologischen Diensts an der Erforschung der fossilen Säugetierfauna der Insel beteiligt war. Während dieser Zeit beschäftigte er sich auch mit der Datierung der Ablagerungen bei Trinil sowie den darin vorkommenden tierischen Fossilien und war darüber hinaus an der Entdeckung einer Reihe gut erhaltener hominider Hirnschädel bei Ngandong — nur wenige Kilometer nördlich — am Solo-Fluss beteiligt. Nach einer zweijährigen Unterbrechung seines Aufenthalts konzentrierte er seine Feldforschungen auf Java auf das Gebiet um das Dörfchen Sangiran, etwa zwölf Kilometer nördlich von Surakarta. Denn durch Erosion des »Sangiran-Doms«, einer etwa acht Kilometer langen und vier Kilometer breiten Erhebung, waren hier bis zu drei Millionen Jahre alte Ablagerungen freigelegt worden. Diese sollten im Lauf der folgenden Jahrzehnte zu einer der weltweit ertragreichsten Homo-erectus-Fundstellen werden.
 
Noch vor seiner Ankunft auf Java 1937 beauftragte von Koenigswald einen indonesischen Helfer, mit dem Fossiliensammeln bei Sangiran zu beginnen, und bereits in dem ersten mit Versteinerungen gefüllten Korb entdeckte er jenen kräftig gebauten hominiden Unterkiefer, der heute als »Sangiran 1« bezeichnet wird. Daraufhin spornte von Koenigswald die Einheimischen durch kleine Ankaufprämien zum Fossiliensammeln an, worauf sie diese körbeweise zu dem Wissenschaftler brachten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Im selben Jahr fand sich der erste recht vollständige fossile Hominidenschädel, der zunächst aus 40 einzelnen Fragmenten bestand; zu spät hatte von Koenigswald bemerkt, dass einige der Dorfbewohner begonnen hatten, größere Fossilien zu zerschlagen, da sie stückweise entlohnt wurden. Es gelang jedoch schnell, die Einzelteile wieder zusammenzufügen. Dabei zeigte sich, dass der Hirnschädel dem Schädeldach aus Trinil bis in Einzelheiten ähnelte. Daher ordnete von Koenigswald seinen Fund Pithecanthropus zu — obwohl sich Dubois einer solchen Verbindung zu dem von ihm als »Missing Link« angesehenen Trinil-Fund vehement widersetzte.
 
Dem Schädel »Pithecanthropus II« oder »Sangiran 2« folgte im nächsten Jahr ein weiteres, von einem jugendlichen Individuum stammendes Schädeldach »Sangiran 3« und schließlich ein Oberkiefer mit ausgesprochen großen Zähnen (»Sangiran 4«). Um größere Klarheit über ihre Zuordnung zu erhalten, reiste von Koenigswald mit diesen neuen Funden zu Weidenreich nach Peking, wo er sie mit den Hominiden von Zhoukoudian vergleichen wollte. Noch während seiner Abwesenheit wurden auf Java größere Teile des zu »Sangiran 4« gehörigen Hirnschädels entdeckt und ihm nachgesandt.
 
Damit stand den beiden Forschern eine beachtliche Sammlung frühmenschlicher Fossilien für eine Gegenüberstellung zur Verfügung. Sie legten die chinesischen und die indonesischen Funde jeweils auf eine Seite eines Labortischs und begannen, jedes anatomische Detail der Funde exakt zu vergleichen, wobei sie große Übereinstimmungen zwischen den Fossilien aus China und Java feststellen konnten. In einem gemeinsamen Aufsatz, den die Paläoanthropologen 1939 in der Wissenschaftszeitschrift »Nature« veröffentlichten, äußerten sie deshalb die Überzeugung, der javanische Pithecanthropus wie auch der »Pekingmensch« gehörten der selben Art an. Die anatomischen Unterschiede zwischen ihnen seien nicht größer als die zwischen heutigen Populationen aus verschiedenen Teilen der Welt, eine Auffassung, die später durch weitere Funde bestätigt wurde. Beide Gruppen werden heute einer einzigen Art, Homo erectus, zugeordnet.
 
Nach seiner China-Reise setzte von Koenigswald seine Grabungsarbeiten auf Java fort und entdeckte in Sangiran zwei weitere Unterkiefer (bezeichnet als »Sangiran 5« und »6«) sowie erneut einzelne Zähne, ehe 1941 die Besatzung durch japanische Streitkräfte auch auf Java die Ausgrabungen zunächst beendete. Von Koenigswald wurde interniert, vermochte aber seine Funde aus Sangiran heil durch die Kriegswirren zu bringen. Nach Kriegsende ging er zunächst in die USA, wo er die intensive Zusammenarbeit mit Franz Weidenreich fortsetzte.
 
 Heutige Fundlage
 
Feldforschungen in verschiedenen Teilen der Welt haben bis heute zu einer umfangreichen Dokumentation der Art Homo erectus geführt. Dabei wurden die meisten Fossilfunde in Ostasien und Afrika gemacht.
 
Schatzkammer Sangiran
 
Zu Beginn der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts wurde die Fossilsuche bei Sangiran wieder aufgenommen. Nachdem zunächst 1952 ein weiteres, recht robustes Unterkieferfragment (»Sangiran 8«) entdeckt worden war, konnten die indonesischen Forscher Teuku Jacob und Sastrohamidjojo Sartono seit 1960 fast kontinuierlich immer wieder von neuen Homo-erectus-Funden berichten. Damit liegen bis heute, rechnet man die von Ralph von Koenigswald in den 1930er-Jahren gefundenen Fossilien hinzu, allein aus dieser Region Schädel- und Unterkieferfragmente von mehr als vierzig Individuen vor. Noch wesentlich größer wird ihre Zahl, berücksichtigt man die vielen Einzelzähne, die hier gefunden wurden. Das Tal um Sangiran ist somit zu einer der wichtigsten Fundstellen frühmenschlicher Zeugnisse geworden, das bis in die jüngste Zeit mit neuen, zum Teil spektakulären Entdeckungen Schlagzeilen gemacht hat. So ist anlässlich des internationalen Kongresses »Hundert Jahre Pithecanthropus« in Leiden 1993 die Nachricht vom neuerlichen Fund eines fast vollständigen Homo-erectus-Schädels um die Welt gegangen, der erst fünf Wochen vor der Tagung entdeckt worden war — besser hätte man es nicht planen können.
 
Eine herausragende Stellung unter den Fossilien dieses Fundorts kommt dem Hominiden mit der Bezeichnung »Sangiran 17« zu, der 1969 in etwa 800 000 Jahre alten Sedimenten bei Pucung im Sangiran-Gebiet entdeckt wurde. Das Schädeldach war teilweise aus dem weißgrauen Sandstein herausgewaschen worden, der Kiefer lag bereits frei, und nach und nach konnten dann auch der größte Teil des Gesichts sowie fast der gesamte Hirnschädel geborgen werden. Dieser Fund ist nicht nur der vollständigste aller fossilen Schädel, die auf Java entdeckt wurden. Vielmehr weist er mit seiner flachen Stirn, die einen kräftigen Überaugenwulst trägt, dem sehr massiven Gesicht, dem nach oben deutlich schmaler werdenden Hirnschädel, dessen Volumen bei rund 1000 cm3 liegt, und dem gewinkelten Hinterhaupt die typischen Merkmale der Art Homo erectus auf.
 
Bei andern Funden bestehen allerdings Zweifel, wie sie zu interpretieren sind, denn ein — wenn auch kleiner — Teil der indonesischen Fossilien fällt durch seine extreme Robustheit auf. Das gilt etwa für den sehr stark verformten Gesichtsschädel (»Sangiran 27«) oder den hinteren Teil eines Hirnschädels (»Sangiran 31«), die 1978 beziehungsweise 1979 gefunden wurden. Letzterer ist ausgesprochen dickwandig, und ein merkwürdiger Scheitelkamm verläuft in der Mitte des Schädeldachs. Solche Fossilien lassen es durchaus als möglich erscheinen, dass neben Homo erectus noch eine andere Hominidenform auf Java lebte. So war denn auch schon Koenigswald der Ansicht, sein außergewöhnlich robuster Unterkieferfund mit der Bezeichnung »Sangiran 6« sei nicht wie die allermeisten Fossilien aus Sangiran Homo erectus, sondern einer andern Hominidenform zuzuordnen, der er den Namen Meganthropus palaeojavanicus gab.
 
Weitere Funde aus Java und China
 
Überreste des Homo erectus wurden nicht nur an den erwähnten berühmten Fundstätten von Trinil, Sangiran und Zhoukoudian, sondern auch andernorts in Ostasien, so etwa in Mojokerto nahe Surabaya im Osten Javas gefunden. Bereits 1936, ein Jahr bevor Koenigswald den ersten Unterkiefer in Sangiran entdeckte, war hier ein fossiler Kinderschädel zum Vorschein gekommen. Obwohl er von einem nur Drei- bis Siebenjährigen stammt, trägt er bereits deutliche Züge des Homo erectus, wie beispielsweise eine relativ niedrige Stirn und ein gewinkeltes Hinterhaupt. Nach neuesten Datierungen könnte das Fossil 1,8 Millionen Jahre alt sein.
 
Ein anderer wichtiger Fund wurde 1973 bei Sambungmacan in der Nähe von Sangiran gemacht. Der auf rund 400 000 Jahre (oder nach neueren Datierungen wesentlich jünger) geschätzte, gut erhaltene Hirnschädel hat ein Volumen von ungefähr 1035 cm3 und ähnelt sehr andern Homo-erectus-Schädeln. Jedoch ist seine Stirn im Vergleich zu den älteren Funden von Trinil und Sangiran etwas gewölbter und die Hinterhauptsregion stärker ausgeweitet, was ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit den Schädelfunden von Ngandong verleiht, die möglicherweise schon dem archaischen Homo sapiens zugeordnet werden können.
 
Daneben sind zwei weitere Homo-erectus-Funde erwähnenswert, die in den 1960er-Jahren in der Umgebung der Stadt Lantian im Nordwesten Chinas glückten. Etwa 17 Kilometer östlich der Stadt am Gongwangling-Hügel wurden 1964 mehrere größere Teile des Schädels einer 30- bis 40-jährigen Frau geborgen, der etwa eine Million Jahre alt sein dürften. Obwohl durch den Druck der aufliegenden Sedimente verformt und zudem auf der Außenseite stark verwittert, zeigt er deutliche morphologische Ähnlichkeit mit den auf Java gefundenen Homo-erectus-Schädeln; sein Volumen wurde auf 780 cm3 geschätzt. Vermutlich ebenfalls von einer Frau, wenngleich, wie die stark abgenutzten Zähne erkennen lassen, von einer älteren, stammt ein recht gut erhaltener Unterkiefer, der ein Jahr zuvor rund zehn Kilometer westlich von Lantian in der Nähe des Dorfs Chenjiawo entdeckt wurde. Er ist etwa 650 000 Jahre alt.
 
Für einige Aufregung in der Fachwelt haben in jüngster Zeit ein kleines Unterkieferbruchstück mit zwei Backenzähnen und ein einzelner Schneidezahn gesorgt, die in den 1980er-Jahren in der Longgupo-Höhle bei Wushan gefunden wurden. Paläomagnetische Datierungen deuten nämlich auf das sehr hohe Alter dieser Fossilien von etwa 1,8 Millionen Jahre hin. Allerdings ist die Interpretation sehr umstritten, bestehen doch erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Datierung und daran, dass es sich bei dem kleinen Kieferstück wirklich um das eines Hominiden handelt. Sollten diese Bedenken ausgeräumt werden können, wäre das Longgupo-Fossil das gegenwärtig älteste Zeugnis des chinesischen Frühmenschen. Neueste Datierungen legen ein ebenfalls recht hohes Alter zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Jahre für zwei isolierte Schneidezähne nahe, die 1965 im südchinesischen Yuanmou gefunden wurden.
 
Bei Yunxian in Zentralchina wurden 1989 und 1990 zwei Schädel entdeckt, die, obgleich stark deformiert, die vollständigsten je auf dem asiatischen Festland nachgewiesenen Homo-erectus-Schädel darstellen und nach neuesten Datierungen vermutlich 600 000 bis 800 000 Jahre alt sind. Beide Funde ähneln mit ihren großen Gesichtern und in der Form ihrer Überaugenwülste stärker archaischen Funden von Homo sapiens aus Afrika und Europa als dem Pekingmenschen. Bei andern Merkmalen weisen sie jedoch weit reichende Gemeinsamkeiten mit dem Pekingmenschen auf, sodass sich mit den Yunxian-Hominiden das bis dahin bekannte morphologische Variationsspektrum von Homo erectus in China wesentlich erweitert hat. Sie sind daher auch von großer Bedeutung für das Evolutionsverständnis der Art in Ostasien.
 
Aus der Longtandong-Höhle im Hexian-Distrikt in Ostchina schließlich stammt der mit rund 200 000 Jahren wahrscheinlich jüngste Homo-erectus-Fund. Hierbei handelt es sich um einen Hirnschädel mit einer Kapazität von etwa 1025 cm3. Er ähnelt in vielen Details den Funden von Zhoukoudian, trägt jedoch hinsichtlich einiger Merkmale auch fortschrittlichere Züge.
 
Homo erectus in Afrika
 
Auf dem afrikanischen Kontinent wurden Spuren von Homo erectus erst Mitte des 20. Jahrhunderts in Ablagerungen der südafrikanischen Swartkrans-Fundstelle entdeckt, die für ihre zahlreichen Überreste von Australopithecus robustus bekannt ist. 1949 kamen hier zwei Unterkieferfragmente (SK 15 und SK 45) zum Vorschein, die, nachdem die Entdecker SK 15 zunächst mit dem neuen Gattungs- und Artnamen Telanthropus capensis belegt hatten, später Homo erectus zugeordnet wurden. Andere ebenfalls 1949 gefundene Schädelreste galten lange Zeit als Zeugnisse robuster Australopithecinen. Zwanzig Jahre lang lagerten sie im Transvaal-Museum in Pretoria, bis der in Südafrika tätige Anthropologe Ronald Clarke feststellte, dass es sich um Fragmente eines Schädels der Gattung Homo handelt. Zu diesem Schädel gehört offensichtlich auch ein Oberkieferbruchstück, das zu den ersten Funden zählte. Doch obwohl es Clarke gelang, die verschiedenen Teile zusammenzufügen, blieb der so entstandene Schädel SK 847 recht unvollständig, was seine Interpretation erschwert. Vergleichende Untersuchungen dieses etwa 1,5 Millionen Jahre alten Hominidenschädels haben zwar auffällige Ähnlichkeiten mit andern Homo-erectus-Schädeln ergeben, die in Afrika gefunden wurden, jedoch ist nicht auszuschließen, dass er — wie der ebenfalls fragmentarische Schädel »Stw 53« aus Sterkfontein — von einem frühen Homo stammt.
 
In den 1950er-Jahren wurden im algerischen Tighenif drei Unterkiefer und ein Scheitelbein gefunden. Diese etwa 700 000 Jahre alten Funde können aufgrund ihrer typischen Merkmale Homo erectus zugeordnet werden. Etwas anders ist die Situation bei einigen weiteren nordafrikanischen Unterkiefer- und Schädelfragmenten, die zwischen 1955 und 1972 bei Sidi Abderrahman und in den Steinbrüchen Thomas Quarries, beide bei Casablanca in Marokko, gefunden wurden. Diese jüngeren Fossilien gehören sowohl zeitlich als auch morphologisch in die Übergangsperiode von Homo erectus zum archaischen Homo sapiens, sodass ihre Klassifikation schwierig ist.
 
Nachdem die hier vorgestellten Unterkieferfunde aus Südafrika und Algerien erste Hinweise auf einen afrikanischen Vertreter von Homo erectus gegeben hatten, konnte Louis Leakey 1960 aus der Olduvai-Schlucht in Tansania den ersten aussagekräftigen Fund eines Hirnschädels vermelden, der dieser Art zugeordnet werden kann. Der als O.H. 9 bezeichnete lange, niedrige Schädel mit einem Volumen von etwa 1060 cm3 ist wie seine ostasiatischen Gegenstücke von der für Homo erectus typischen Gestalt und besitzt einen besonders massiven Überaugenwulst. Dabei ist der Fund mit rund 1,2 Millionen Jahren älter als die in den folgenden Jahren in Olduvai entdeckten Fossilien von Homo erectus, deren Alter zwischen einer Million und 500 000 Jahre liegt.
 
Die ältesten, gegenwärtig zuverlässig datierten Homo-erectus-Fossilien überhaupt stammen ebenfalls aus Ostafrika, genauer aus dem Gebiet östlich des Turkana-Sees in Kenia. Zu ihnen gehört der 1975 entdeckte Fund KNM-ER 3733. Er ist rund 1,8 Millionen Jahre alt und besteht aus einem Hirnschädel sowie dem größten Teil des Gesichts, allerdings ohne Unterkiefer. Damit zählt er zu den vollständigsten Schädelfunden aus Afrika. Seine Zuordnung zu Homo erectus ist unzweifelhaft, obwohl das Hirnschädelvolumen mit ungefähr 850 cm3 nur wenig oberhalb des oberen Werts des früheren Homo liegt. Denn mit seinem dachartig vorspringenden Überaugenwulst und dem stark gewinkelten Hinterhaupt gleicht er den Homo-erectus-Funden aus Indonesien und China. Diesem Fossil in Größe und Gesamtform ausgesprochen ähnlich ist ein gut erhaltener Schädel mit der Fundnummer KNM-ER 3883, der 1976 aus Ablagerungen bei Ileret nahe der Grenze zu Äthiopien gefunden wurde. Er besteht aus einem Hirnschädel und dem angrenzenden oberen Teil des Gesichts und ist 1,6 Millionen Jahre alt.
 
Der mit nahezu 1,9 Millionen Jahren wohl älteste bislang bekannte Homo-erectus-Fund ist ein relativ dickwandiges Bruchstück des Hinterhauptbeins, das zu einer Reihe zumeist kleinerer fragmentarischer Fossilien gehört, die von 1970 bis 1980 am östlichen Turkana-See entdeckt wurden. Es weist die für Homo erectus typische starke Winkelung sowie Ähnlichkeiten mit der Anatomie des als KNM-ER 3733 bezeichneten Schädels auf.
 
Nur wenige Kilometer vom Basiscamp bei Koobi Fora am Ostufer des Turkana-Sees entfernt wurde auf einem der zahlreichen Hügel ein Stein aufgestellt, der die Inschrift »KNM-ER 1808« trägt. Er markiert die Stelle, an der ein Forschungsteam 1973 nach aufwendigem Durchsieben großer Mengen Sediment zahlreiche Bruchstücke eines Homo-erectus-Skeletts fand. Die hominiden Knochenstücke konnten leicht von den zahlreichen tierischen Fossilien unterschieden werden, da ihre Oberfläche von einer Krankheit gezeichnet war. Kurz vor seinem Tod hatte das Individuum an einer Knochenhautentzündung gelitten, die zur Bildung einer rauen Schicht neuer Knochensubstanz auf der normalerweise glatten Oberfläche geführt hatte. Alan Walker ist nach eingehenden Untersuchungen davon überzeugt, dass diese krankhaften Veränderungen ihre Ursache in einer übermäßigen Aufnahme von Vitamin A hatten, wie sie besonders durch den Verzehr der Leber großer Raubtiere zustande kommen kann. So hält es der Forscher für möglich, dass Krankheit und Tod dieses Frühmenschen vor rund 1,7 Millionen Jahren auf falsche Ernährung zurückzuführen waren. Vermutlich waren manche Gruppen des frühen Homo erectus noch zu wenig erfahren im Umgang mit fleischlicher Nahrung als dass sie um die Giftigkeit einiger tierischer Organe gewusst hätten.
 
Von der andern Seeseite stammt das vielleicht prominenteste Zeugnis des Homo erectus, der »Turkana-Junge«, ein etwa 1,5 Millionen Jahre altes, fast vollständig erhaltenes Skelett. Schließlich wurden in den mittelpleistozänen Ablagerungen am Baringo-See, abermals in Nordkenia, zwei Unterkiefer der Hominiden-Art entdeckt. Schädel- oder Unterkieferfragmente liegen außerdem aus dem Tschad sowie von den äthiopischen Fundstellen bei Melka Kunturé, Konso-Gardula und aus der Region des Omo-Flusses vor.
 
 
Die ältesten gesicherten Spuren, die der Mensch auf dem europäischen Kontinent hinterlassen hat, reichen mindestens eine Million Jahre zurück. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um fossile Überreste unserer Vorfahren selbst, sondern um deren kulturelle Hinterlassenschaften. So wurde in Soleilhac — einem früheren Seeuferplatz im südfranzösischen Zentralmassiv — eine etwa sechs mal anderthalb Meter große Anordnung von Basaltsteinen freigelegt, die, sollte sie tatsächlich durch Menschenhand entstanden sein, das älteste »Bauwerk« Europas wäre. Vor allem aber wurden hier wie auch in der Höhle von Le Vallonnet bei Nizza oder in Kärlich bei Koblenz Ansammlungen noch relativ einfach bearbeiteter Hauwerkzeuge und Abschläge gefunden, die nach paläomagnetischen Datierungen rund eine Million Jahre alt sein dürften. Etwas älter als 780 000 Jahre sind weitere archäologische Funde aus Přezletice in der Nähe von Prag und dem zentralitalienischen Isernia La Pineta.
 
Ähnlich frühe hominide Fossilien entdeckte ein spanisches Forscherteam im Sommer 1994. Die Funde sind faunistischen und paläomagnetischen Untersuchungen zufolge rund 800 000 Jahre alt. Sie stammen aus Atapuerca, einem Ort 14 Kilometer östlich von Burgos in Nordspanien, der schon seit längerem für seine vielen 200 000 bis 300 000 Jahre alten menschlichen Überreste bekannt war, bevor in einer anderen, 18 Meter tiefen Höhle mit dem Namen Gran Dolina jene bedeutenden Funde gelangen. Zu ihnen zählen zahlreiche Knochenfragmente mindestens zweier Erwachsener, eines 13 bis 15 Jahre alten Jugendlichen und eines 3 bis 4 Jahre alten Kinds. Das vollständigste Schädelteil gehört zum Stirnbein des jugendlichen Individuums und weist bereits einen deutlich entwickelten Überaugenwulst auf, der bei Erreichen des Erwachsenenalters sicher noch kräftiger geworden wäre. Anschließende Arbeiten haben weitere Bruchstücke zutage gebracht, darunter den recht modern erscheinenden Oberkiefer eines etwa elfjährigen Kinds. Daneben wurden an dieser Fundstelle rund 100 grobe Steinwerkzeuge aus Quarzit, Kalkstein, Sandstein und Feuerstein geborgen, und auch in darunter liegenden, älteren Schichten wurden noch Werkzeuge gefunden, deren genaues Alter zwar noch nicht ermittelt werden konnte, die jedoch belegen, dass hier schon vor mehr als 780 000 Jahren Menschen lebten.
 
Vor den Grabungserfolgen in Spanien galt über viele Jahrzehnte hinweg ein 500 000 bis 600 000 Jahre alter Unterkiefer aus der Nähe von Heidelberg als das älteste hominide Fossil Europas. Er wurde schon 1907 bei Arbeiten in der Sandgrube Grafenrain bei Mauer neben mehr als 5000 Knochen, Zähnen, Hörnern und Geweihen verschiedenster Tier-Arten als das einzige frühmenschliche Fossil entdeckt. Der Unterkiefer ist recht robust gebaut, besitzt ein fliehendes Kinn und wird von vielen Forschern Homo erectus zugeordnet.
 
Etwa ebenso alt ist ein menschliches Schienbein, das Mitte der 1980er-Jahre zusammen mit zwei Schneidezähnen und verschiedenen Stein- und Knochenwerkzeugen im südenglischen Boxgrove gefunden wurde. Die Dimensionen des Schienbeins deuten darauf hin, dass jenes Individuum mit 1,80 Metern recht groß und kräftig gewesen sein muss.
 
Auf die Existenz der Art Homo erectus in Europa scheinen auch die Funde von Bilzingsleben — etwa 35 Kilometer nördlich von Erfurt — hinzudeuten. Dort hat der Prähistoriker Dietrich Mania seit 1971 einen altpaläolithischen Siedlungsplatz freigelegt und unter anderm zahlreiche Steinwerkzeuge sowie Geräte geborgen, die vornehmlich aus Knochen des Waldelefanten gefertigt worden waren. Dabei sprechen Konzentration und Anordnung der Funde dafür, dass dieser Lagerplatz längere Zeit von einer Gruppe von Frühmenschen aufgesucht worden war, die in der Umgebung Großwild jagten. Außerdem wurde in Bilzingsleben eine erstaunliche Anzahl hominider Schädelfragmente geborgen, die wahrscheinlich drei Individuen zuzurechnen sind. Zu diesen 350 000 bis 420 000 Jahre alten Fossilien gehört eine Reihe diagnostisch relevanter Bruchstücke wie etwa eines Überaugenwulsts und eines Hinterhaupts. Sie weisen bemerkenswerte Übereinstimmungen mit entsprechenden Homo-erectus-Fossilien aus Afrika und Ostasien auf, werden aber von einigen Forschern auch in enge Verbindung mit dem weiter entwickelten archaischen Homo sapiens gebracht. Das verdeutlicht exemplarisch die Probleme, die sich bei der Klassifikation der erwähnten europäischen Hominidenfunde überhaupt ergeben. Da sie häufig mosaikartige Kombinationen aus Merkmalen von Homo erectus und des archaischen Homo sapiens aufweisen, werden sie in der Fachwelt gegenwärtig recht uneinheitlich entweder zu der einen oder der andern Spezies gestellt. Daneben plädieren einige Paläoanthropologen dafür, alle »frühen Europäer« in einer eigenen Gruppe oder Art, Homo heidelbergensis, zusammenzufassen. So können erst weitere, vollständigere Fossilien zu mehr Klarheit darüber führen, ob sich die aus Asien und Afrika gut bekannte Art Homo erectus auch nach Europa ausgebreitet hatte. Ein solcher Fund mag der kürzlich bei Rom entdeckte Schädel von Ceprano sein, der möglicherweise rund 700 000 Jahre alt ist und von seinen Entdeckern als später Homo erectus klassifiziert wurde.
 
Die Zeit des Homo erectus
 
Die zahlreichen Fossilien von Homo erectus, die in den verschiedenen Teilen der alten Welt gefunden wurden und dessen Existenz für einen Zeitraum von mehr als anderthalb Millionen Jahre belegen, vermitteln ein recht komplexes Bild von der Verbreitung dieser Art.
 
Die ältesten Zeugnisse, die sie in Afrika hinterließ, sind die Funde vom ostafrikanischen Turkana-See, die rund 1,9 Millionen Jahre zurückreichen, wobei der erste fast vollständige Schädel (KNM-ER 3733) 1,8 Millionen Jahre alt ist. Weitere frühe Belege sind der gut erhaltene Schädel KNM-ER 3883 sowie der »Turkana-Junge«, die auf ein Alter von 1,6 beziehungsweise 1,5 Millionen Jahre datiert werden. Das Alter der in Swartkrans in Südafrika gemachten Funde von Homo erectus wird auf 1,6 oder vielleicht sogar 1,8 Millionen Jahre veranschlagt, während die ältesten bekannten Funde aus Nordafrika nur rund 700 000 Jahre alt sind.
 
Der Frühmensch Homo erectus lebte demnach noch einige Hunderttausend Jahre neben Homo habilis auf dem Kontinent und war noch länger Zeitgenosse der robusten Australopithecinen. Erst nach deren Aussterben vor etwa eine Million Jahren blieb Homo erectus als einzige Hominidenart zurück, die auch in Tansania, Kenia, Äthiopien und im Tschad belegt ist, ehe er dann — vor etwa 600 000 Jahren — seinerseits vom fortschrittlicheren archaischen H. sapiens langsam abgelöst wurde.
 
In Zentral- und Westeuropa sind nicht fossile Überreste, sondern grobe Steinwerkzeuge die ältesten, rund eine Million Jahre alten Spuren des Menschen. Sie lassen mittelbar darauf schließen, dass Homo erectus bereits zu jener Zeit den Kontinent besiedelt hatte. Eine solche These wird durch den Fund eines Unterkiefers in Dmanisi im eurasischen Grenzgebiet gestützt, der etwa eine Million Jahre oder noch älter sein könnte. Die fossilen menschlichen Überreste aus Spanien sind rund 800 000 Jahre alt, etwas jünger ist wahrscheinlich ein Schädel des späten Homo erectus aus Italien. Die Funde aus Mauer und Bilzingsleben sprechen dafür, dass Homo erectus oder ihm ähnliche Menschen noch bis vor etwa 400 000 Jahren in Europa lebten, um dann — ähnlich wie in Afrika — vom archaischen Homo sapiens abgelöst zu werden.
 
Die Datierung der ostasiatischen Funde stellt die Wissenschaftler immer wieder vor schwierige Probleme, denn das Fehlen vulkanischer Ablagerungen in China lässt die Anwendung der zuverlässigen Kalium-Argon-Methode nicht zu. Mithilfe anderer Verfahren — vor allem der paläomagnetischen Datierung und anhand der Uran-Zerfallsmethode — sind allerdings auch hier inzwischen relativ zuverlässige Altersbestimmungen möglich geworden. So könnte es sich bei dem Unterkieferfragment von Longgupo, sofern es wirklich von einem Hominiden stammt, mit rund 1,8 Millionen Jahre um das älteste Zeugnis handeln. Andernfalls reicht die Fossildokumentation mit den Zahnfunden von Yuanmou zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Jahre zurück.
 
Relativ sicher dürfte somit sein, dass der Frühmensch schon vor etwas mehr als eine Million Jahren in China lebte, was auch durch den Schädelfund von Gongwangling/Lantian belegt ist. Etwa 200 000 bis 400 000 Jahre jünger sind die Hominiden von Yunxian, während die bedeutenden Fossilien aus der »Drachenhöhle« von Zhoukoudian in ihrer Mehrzahl aus einer etwa 420 000 Jahre alten Schicht stammen. Da sie insgesamt für einen Zeitraum von 460 000 bis 230 000 Jahren nachgewiesen sind, lassen sie erkennen, dass Homo erectus hier lange Zeit gelebt hat, wenn auch wahrscheinlich nicht kontinuierlich. Seine letzten Spuren datieren von vor etwa 200 000 Jahren. Sie sind durch die Überreste von Hexian in Westchina gut dokumentiert. Aus dieser Zeit gibt es in China aber auch schon Funde von dem fortschrittlicheren archaischen Homo sapiens. Daher erscheint es möglich, dass beide Arten hier einige Zehntausend Jahre lang parallel existierten.
 
Auch bei den Funden von der Insel Java sehen sich die Forscher bei ihren Versuchen, das Alter der Fossilien zu bestimmen, vor schwierige Probleme gestellt. Hier sind es vor allem die recht komplexen geologischen Verhältnisse sowie die oft bestehenden Unklarheiten bezüglich der genauen Fundstellen des zum größten Teil von einheimischen Sammlern entdeckten Materials, die eine genaue Altersbestimmung erschwerden. Seit Ende der 1970er-Jahre wurden jedoch erhebliche Anstrengungen unternommen, um größere Klarheit über das Alter der javanischen Fossilien zu gewinnen. Bis 1993 schienen diese Untersuchungen nahezulegen, dass keins der hier entdeckten Fossilien älter als 1,2 Millionen Jahre ist. Neuere Analysen mithilfe der modernen Laserfusionstechnik, die eine sehr präzise Kalium-Argon-Datierung ermöglicht, ergaben ein wesentlich höheres Alter der Fundstellen des Kinderschädels von Mojokerto und der beiden recht robusten Fossilien »Sangiran 27« und »Sangiran 31«. Den 1994 veröffentlichten Forschungsergebnissen eines amerikanisch-indonesischen Teams unter Leitung von Carl Swisher und Garniss Curtis zufolge sind diese 1,8 beziehungsweise immerhin 1,6 Millionen Jahre alt. Die jüngsten gegenwärtig vorliegenden Homo-erectus-Überreste von Sangiran reichen bis vor etwa 500 000 Jahre zurück, und noch deutlich jünger dürfte der Schädel aus Sambungmacan sein.
 
Erste Auswanderung aus Afrika
 
Nach allem, was wir bislang über die Verbreitung und Datierung der frühen Hominiden wissen, war Homo erectus wahrscheinlich die erste Frühmenschen-Art, die sich von Afrika aus nach Asien und Europa ausbreitete. Das gegenüber seinen Vorläufern größere, leistungsfähigere Gehirn und die weiter entwickelte Kultur ermöglichten es Homo erectus, neue Regionen zu erschließen.
 
Folgt man den erwähnten neuesten Analysen der Funde von Mojokerto und Sangiran, erreichte H. erectus bei seiner Wanderung die Insel Java vor 1,8 beziehungsweise 1,6 Millionen Jahren. Auch im chinesischen Raum soll er Spuren hinterlassen haben, die 1,5, vielleicht sogar 1,8 Millionen Jahre alt sein könnten. Allerdings sind inzwischen erhebliche Zweifel laut geworden, ob jenes Kieferfragment von Longgupo dem frühen Homo erectus oder überhaupt den Hominiden zugerechnet werden kann. Daneben ist bislang nicht auszuschließen, dass der sicherlich menschliche Schneidezahn durch Erosion aus einem andern Horizont in die Fundschicht gelangt ist und somit die Datierung zwar auf diese, nicht aber auf den Zahn zutrifft. Ähnliche Unsicherheiten bestehen bei der Altersbestimmung des kaukasischen Unterkiefers von Dmanisi, der 1,6 bis 1,8 Millionen Jahre alt sein könnte, da er nur wenig oberhalb der 1,9 Millionen Jahre alten Lava gefunden wurde. Doch zeigen neueste paläomagnetische Untersuchungen, dass die Ablagerungen über der Lavaschicht recht komplex sind und die Ansammlungen von Tierknochen — in einer von ihnen fand sich auch der Kiefer — ursprünglich aus höher liegenden Sedimenten stammen.
 
Der aus der Altersbestimmung dieser Funde abgeleitete zeitliche Rahmen des Ausbreitungsszenarios erscheint demnach gegenwärtig noch relativ ungesichert. Zwar liegen durchaus Indizien vor, wonach die rund 1,4 Millionen Jahre alten Hominidenreste und Steinwerkzeuge von Ubeidiya im Jordantal (Israel) nicht länger als die ältesten Hinweise auf die Anwesenheit des Frühmenschen außerhalb Afrikas anzusehen sind. Gleichwohl sind weitere Untersuchungen nötig, um Zweifel und Unklarheiten über Alter und Zuordnung bestimmter Fossilien sowie Widersprüche mit andern Altersbestimmungen des Gesteins der Fundorte auszuräumen. Sollten diese Analysen allerdings die Vermutung erhärten, dass Hominiden schon vor rund 1,8 Millionen Jahren bis nach Ostasien gelangt waren, ergäben sich neue interessante Fragen: Verließ erst Homo erectus den angestammten afrikanischen Kontinent, oder erreichten auch Gruppen des frühen Homo oder gar andere Hominiden Ostasien? Und welche Konsequenzen hat eine entsprechende Chronologie für die Klassifizierung der sehr robusten, als Meganthropus bezeichneten Funde aus Sangiran, deren Zuordnung zu Homo erectus seit ihrer Entdeckung bis heute umstritten geblieben ist?
 
Prof. Dr. Günter Bräuer und Jörg Reincke
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Homo erectus: Kennzeichen und Evolution
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Homo habilis und Homo rudolfensis: Die ersten Menschen
 
 
Bräuer, Günter: Die Entstehungsgeschichte des Menschen, in: Brockhaus. Die Bibliothek. Grzimeks Enzyklopädie Säugetiere, Band 2, S. 490-520. Leipzig u. a. 1997.
 Bräuer, Günter: Vom Puzzle zum Bild. Fossile Dokumente der Menschwerdung, in: Funkkolleg Der Mensch. Anthropologie heute, herausgegeben vom Deutschen Institut für Fernstudienforschung an der Universität Tübingen, Heft 2. Tübingen 1992.
 
Die ersten Menschen. Ursprünge und Geschichte des Menschen bis 10000 vor Christus, herausgegeben von Göran Burenhult. Aus dem Englischen. Hamburg 1993.
 
Evolution des Menschen, herausgegeben von Bruno Streit. Heidelberg 1995.
 
Evolution des Menschen, Band 2: Die phylogenetische Entwicklung der Hominiden, bearbeitet von Peter Schmid und Elke Rottländer. Tübingen 1989.
 
GEO Wissen, Heft 2/1998: Die Evolution des Menschen. Hamburg 1998.
 Henke, Winfried und Rothe, Hartmut: Paläoanthropologie. Berlin u. a. 1994.
 
Hominid evolution. Past, present and future, herausgegeben von Phillip V. Tobias. Neudruck New York 1988.
 Johanson, Donald und Edey, Maitland: Lucy. Die Anfänge der Menschheit. Aus dem Amerikanischen. Neuausgabe München u. a. 21994.
 Leakey, Richard: Die ersten Spuren. Über den Ursprung des Menschen. Aus dem Englischen. München 1997.
 Leakey, Richard und Lewin, Roger: Der Ursprung des Menschen. Auf der Suche nach den Spuren des Humanen. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 1998.
 Leakey, Richard und Lewin, Roger: Wie der Mensch zum Menschen wurde. Aus dem Englischen. Neuausgabe Hamburg 1996.
 Lewin, Roger: Spuren der Menschwerdung. Die Evolution des Homo sapiens. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1992.
 Reader, John: Die Jagd nach den ersten Menschen. Eine Geschichte der Paläanthropologie von 1857-1980. Aus dem Englischen. Basel u. a. 1982.
 Schrenk, Friedemann: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens. München 1997.
 Tattersall, Ian: Puzzle Menschwerdung. Auf der Spur der menschlichen Evolution. Aus dem Englischen. Heidelberg u. a. 1997.
 
Vom Affen zum Halbgott. Der Weg des Menschen aus der Natur, herausgegeben von Wulf Schiefenhövel u. a. Stuttgart 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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